Jetzt aber raus aus dem Büro!

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Take a step back

Oder: Egal wie früh man testet es ist immer zu spät!

„Kein Plan überlebt die erste Feindberührung“ - Helmuth Karl Bernhard von Moltke (aka “Moltke, der Ältere”, 1800 – 1891)

Damit hat von Moltke ausgedrückt, dass er nur den Beginn eines Feldzuges für planbar hielt, nicht aber den Verlauf. Den Verlauf hielt er wegen der Vielzahl unbekannter, aber zu berücksichtigender Einflüsse für unkalkulierbar. Die Aussage hat für mich zwei wesentliche Aspekte:

  • Der erste ist die Aussage an sich: KEIN Plan überlebt die erste Feindberührung.
  • Der zweite ist die Begründung: Wir wissen nicht was passieren wird, weil wir es mit einer komplexen Situation zu tun haben.

Beide Aspekte können wir auf den Produktbereich übertragen:

  • Keine Produktplanung überlebt die Berührung mit dem Markt, weil wir
  • nie genug über unsere Kunden und die Marktbedürfnisse wissen (die in etwa so komplex sind wie von Moltkes Umgebung).
Von Moltke in Berlin

Von Moltke in Berlin Tiergarten, Quelle: Wikipedia, CC Lizenz

Das bringt uns immer wieder dazu festzustellen: Wir können nie früh genug aus dem Büro gehen und den Markt beobachten und untersuchen, um das Risiko unseres Produktlaunches zu verringern. Denn je mehr wir vom Markt verstehen, umso mehr ahnen wir über das, was von uns verlangt wird, und umso eher passt unser Produkt in den Markt und löst die dort gestellten Probleme.

Ganz praktisch möchte ich das an drei Beispielen verdeutlichen:

  • Wir kennen schon die Lösung eines Problems.
  • Wir suchen die Lösung eines attraktiven Problems.
  • Wir suchen ein relevantes Kundenproblem (oder Marktsegment), das wir lösen wollen – die Lösung ist dann unser Produkt.

Solution-minded oder technisch getriebenes Umfeld

Der erste und zweite Fall begegnet einem sehr häufig in bereits skalierten Firmen, deren Wachstumskurven bereits abflachen und die dem Innovators Dilemma entgegen laufen. Ein anderer Fall sind technisch getriebene Firmen: Das Muster ist: “Wir haben eine tolle Lösung gefunden!“. Entweder hat jemand ein tolles Produkt gesehen, das man auch haben will oder es hat jemand ein tolles Tool entdeckt, das auf spannende Weise ein Problem löst. In beiden Fällen stellt sich die Frage, ob wir das Problem überhaupt haben, für das wir die Lösung schon kennen. Oder besser: Ob unsere Kunden das Problem überhaupt haben. Da hilft es nicht viel, sich das ganze am Whiteboard schön zu rechnen. Wir schreiben dann oft einen Business Model Canvas (andere auch gerne ein A3). Daraus extrahieren wir dann möglichst generelle Problemstellungen, die wir mit unserer Lösung zu adressieren scheinen. Und jetzt können wir „raus“ gehen und schauen wie sich das Problem im Markt darstellt. Manchmal finden wir es gar nicht wieder. Manchmal sieht das Problem ganz anders aus. Manchmal müssen wir es zigmal drehen und wenden („Framing“), um es wiederzuentdecken und – parbleux – plötzlich passt unsere Lösung gar nicht mehr. Das ist oft enttäuschend. Aber meist wäre es enttäuschender, hätten wir den ganzen Kram einfach gebaut. Projekte, die keiner braucht.

Hier kaufen wir Information so billig wie möglich, bevor das große Geldausgeben beginnt. Nicht jeder mag so manche enttäuschende Erkenntnis – aber der Ansatz ist so Lean wie man es nur haben kann.

Startups oder ganz neue Produkte 

Der dritte Fall ist vor allem relevant, wenn man ein ganz neues Produkt in den Markt bringen will. Startups versuchen im Allgemeinen neue Probleme zu entdecken, die man hochskalierend lösen kann. Firmen, die schlau sind und immer wieder neue Produkte auf den Markt bringen, machen etwas ähnliches: Unaufhörliche Innovation. Was hier konzeptionell passiert ist das, was Roger L. Martin mit dem Wissenstrichter (Knowledge Funnel) beschreibt: Man sieht (ahnt) ein relevantes Problem und versucht eine Lösung dafür zu finden. Zu Beginn ist dies mühselig und man nähert sich einer einfachen Lösung Stück für Stück über Heuristiken an. Hier beginnt man, das Problem und den Markt besser zu verstehen. Wenn man Glück und Methode hat und lange genug dabei bleibt, findet man den Algorithmus, den Automatismus, der das Problem löst und kann ihn ausnutzen. Das Unternehmen kann das Produkt oder Angebot skalieren und ausbeuten (Exploitation). Um das zu schaffen, muss man immer wieder einen Schritt zurück gehen und sich umschauen.

The Knowledge Funnel

The Knowledge Funnel

Die Fragen, die man sich stellen muss sind: Ist das Problem, das ich erkenne relevant? Trifft es die Bedürfnisse von genügend Menschen? Sind die Bedürfnisse tief und intensiv genug, also am besten Grundbedürfnisse, so dass die angebotene Lösung auch zum „Kauf“ führt? Und nicht zuletzt: Wie genau sind die Bedürfnisse in diesem Feld gestrickt? Welche anderen kann ich noch mit bedienen? Diese Analyse hilft uns dann später bei der Ableitung eines befriedigenden, erfüllenden Produktes.

Wir schaffen Verständnis und Tiefe

In jedem Fall schaffen wir ein größeres Fundament für das Verständnis der Validität.

Manchmal gehen wir bis zum Anfang zurück. Und wenn wir am Anfang stehen, schicken wir gerne einen Interviewer los, der unsere gedachte Lösung nicht kennt, um nicht von unserem eigenen Bias überlistet zu werden! Je tiefer das Verständnis ist, das wir erlangen, je tiefgreifender wird unser abgeleitetes Produkt die Bedürfnisse unserer Kunden befriedigen. Und diese Lösungstiefe erzeugt am Ende im guten Fall Begeisterung. Ohne Tiefe dagegen erzeugen wir kurzfristige Gimmicks. Und diese Tiefe können wir nicht in unseren Meetingräumen unter uns erzeugen, sondern nur, wenn wir uns draußen rumtreiben und das Umfeld, in dem unser Produkt funktionieren muss, untersuchen und die Menschen (und ihre Lebensumstände) kennenlernen, die unsere Produkte benutzen sollen.

Aber wollten wir nicht agil und schnell sein?

Dauert das nicht alles? Doch! Was hilft es uns, agil und schnell die falsche Lösung zu bauen? Continuous Deployment und schnelle Feedbackzyklen helfen uns zwar schnell ein halbwegs funktionierendes Produkt Stück für Stück besser zu machen. Es hilft uns aber nur wenig, wenn das Produkt von Anfang an durch zu flaches Verständnis verbaut wurde. Will Evans sagt:

Agile is served fast, not good

http://twitter.com/semanticwill/status/422105507331989506

Wann seid Ihr das letzte mal einen Schritt zurück gegangen?

Natürlich sind wir alle ungeduldig und das Vorgehen stellt unsere Geduld (und die Eures Managements?) ganz schön auf die Probe! Aber bedenkt: Im Produktdesign liegen nur ca. 10% der Produktkosten begraben, es werden aber ca. 90% der Produktkosten festgelegt. Wir denke: Da lohnt sich das bisschen Sicherheit!

Und dran denken: Je näher dran Ihr an der Lösung angefangen habt, umso mehr lohnt sich der schritt zurück – aber um so mehr tut er weh, weil man ja entweder schon so viel investiert hat und seinen Biases ausgeliefert ist.

Falls Ihr mir noch nicht glaubt, holt euch einfach eine zweite Meinung und lest die gute Präsentation „Design Up Front is Back“ von Ari Tanninen.

Viel Spaß beim Abstand nehmen! :)



3 Antworten zu Jetzt aber raus aus dem Büro!

  1. […] Jetzt aber raus aus dem Büro! Am Schreibtisch kleben bleiben ist einfach. Aber wer früh und oft in der Produktentstehung das Büro verlässt, baut bessere Produkte. […]

  2. […] Egal wie früh man testet, es ist immer zu spät. Sagen die Kollegen von überproduct. […]

  3. […] Plan zur Umsetzung den ersten Kontakt mit Kunden nicht überleben werden (siehe hierzu auch „Jetzt aber raus aus dem Büro“ oder das sehr zu empfehlende Buch „Founders at Work“ von Jessica Livingston). Entweder hat […]


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