4 Arten von User Forschung
In „Wie viele Interviews bis zur Validität“ haben wir festgestellt, dass unterschiedlichste Interviewtechniken notwendig sind um den verschiedenen Ansprüchen in unterschiedlichen Produktphasen gerecht zu werden. Dabei ist die Art der Untersuchung zu Beginn der Firmen-, Produkt- oder Featurefindung offener und geht immer mehr in geschlossene Methoden über – je näher wir der Lösung oder gar ihrer Optimierung kommen. Die unterschiedlichen Phasen hatten wir entlang des Knowledge Funnel von Roger L. Martin angeordnet. Wollen Firmen im Geschäft bestehen, muss es zu ihren Grundfähigkeiten gehören, so oft, schnell und tief wie möglich durch den Knowledge Funnel zu tauchen – denn so wird jedes Mal ein neues, relevantes Kundenproblem gelöst. Darum betrachten wir den Knowledge Funnel gleich noch einmal und abstrahieren von den Interviewtechniken und ändern den Betrachtungsinkel hin zu (User) Research-Methoden, die zu den einzelnen Phasen entlang des Knowledge Funnel passen – von der Problemsuche und –entdeckung bis zur Optimierung des Lösungsrezeptes.
Grundlagenforschung vs. angewandte Forschung
Dankenswerterweise hat das Erika Hall in ihrem brillanten Buch “Just enough research” schon für uns erledigt und wir können einfach auf Ihre Arbeit hinweisen und erklären, welche Typen von User Research sie unterscheidet. Wie der Titel ihres Buches andeutet, ist ihr Ansatz recht pragmatisch und schlank gehalten. Forschung ist generell systematisches Nachfragen und als solches aufgeteilt in Grundlagenforschung (wie in der Wissenschaft) und angewandte Forschung. Angewandte Forschung hilft uns, unsere Probleme am Produkt besser zu verstehen und zu lösen. Erika Hall macht es relativ deutlich, dass sie nichts davon hält, diese beiden Bereiche miteinander zu vermischen. Was wir uns merken können ist: Wir benötigen angewandte Forschung mit dem klaren Ziel unser Produkt zu verbessern. Das bedeutet – zur Erleichterung – auch, dass wir keine wissenschaftlichen Maßstäbe an unsere Arbeit anlegen müssen. Das erspart uns einiges an Aufwand und reicht allemal für unseren Zweck: Tiefe Erkenntnisse und Einsichten in unsere Problemdomäne über Außenansichten erlangen.
Wir unterscheiden 4 Typen angewandter Forschung:
1 Generative oder erkundende Forschung
Diese Art von Forschung wird zu Beginn des Produktzyklus angewandt. Zu diesem Zeitpunkt sind wir noch auf der Suche nach dem nächsten Kundenproblem, das es zu lösen gilt. Ziel ist es, ein Problem formulieren zu können, von dessen Lösung wir relativ sicher sind, das es für den Kunden – und damit später auch für uns – relevant ist und dementsprechend Wert generiert. Diese Art von Forschung betreiben wir u.a., indem wir uns an den richtigen Plätzen aufhalten und Leute beobachten, Kunden interviewen, manchmal beliebige Leute, aber auch Experten oder auch einfach durch Internetrecherche. In diesen Interviews stellen wir sehr offene, generische Fragen und wären noch gar nicht in der Lage, aufgabenorientiertere oder konkretere Fragen zu stellen. Wir wollen das Leben und die Umgebung der Interviewees verstehen, analysieren Ihre Verhaltensweisen oder Hacks, mit denen sie sich die Welt ‚schöner’ machen und versuchen darüber Probleme zu entdecken, die wir für sie lösen können.
Selbstredend ist es nicht so, dass wir die Leute konkret nach ihren Problemen fragen oder sie uns diese nennen können. Es bleibt schon unsere Arbeit, Muster von Bedürfnissen und Lösungspotentialen zu entdecken, die wir dann angehen können. Noch haben wir keine Ahnung von der Lösung.
Ziel generativer und explorativer Forschung ist es ein Problem Statement formulieren zu können: Welches Problem lösen wir für wen in welchem Kontext und warum ist dies sinnvoll?
2 Beschreibende und erklärende Forschung
Ein Problem Statement formuliert zu haben, engt den Lösungstrichter schon mal ein. Zum Glück! Wir haben jetzt ein valides, relevantes Problem zur Lösung vor der Nase, aber es gibt dennoch unzählige mögliche Lösungswege. Um diese einzugrenzen und zu priorisieren benötigen wir jetzt ein genaueres Verständnis des Problemkontext und der Leute die wir bedienen um nicht zu scheitern. Wir müssen den Sweet Spot von „Was und Wie“ finden!
Jetzt können wir uns besser und genauer die Leute heraus suchen, die uns spezifischer bei der Untersuchung unseres Problems helfen können. Wir können gezielter Experten heraussuchen und unsere Fragen werden inzwischen auch treffsicherer. So versuchen wir unsere Wissenslücken bzgl. des Problemumfeldes aufzufüllen und vor allem auch neue Sichtweisen einzunehmen. Das beinhaltet die Chance und Herausforderung von unseren eigenen Annahmen („Leute wollen hier normalerweise …“) Abstand zu nehmen und uns den Erkenntnissen und Einsichten der Interviewpartner zu öffnen. Unsere Aufgabe ist es nicht, unsere Annahmen zu bestätigen, sondern neue Perspektiven einzunehmen und so direkt an der Quelle besser zu verstehen was funktionieren könnte und warum und wann.
In dieser Phase ist es von besonderem Interesse, zu verstehen, welche Konventionen und Lösungsmuster wir verwenden können und welche nicht. Denn man sollte nicht vergessen: Konventionen („Einkaufswagen“) im Internet helfen uns und sind von großem Wert. Wir sollten gar nicht erst (aus Eitelkeit?) gegen sie ankämpfen. Allerdings können wir diese Lösungen nur im richtigen Kontext anwenden. Während Innovation in einem neuen Kontext von großem Wert ist, ist sie in bekannten Kontexten eher störend. (Wer traut sich schon zu, die „Einkaufswagen“-Metapher durch eine bessere, eigene zu ersetzen?).
Ziel dieser Phase ist es, ein gutes, tiefes Verständnis der Umgebung zu erlangen für die wir eine Lösung anbieten wollen. Daraus wollen wir Lösungsideen entwickeln und so informierten Lösungen für unser gewähltes Problem immer näher kommen.
3 Bewertende Forschung
Jetzt, endlich, können wir zum ersten mal Forschung treiben, die es tatsächlich zum Ziel hat, unsere Lösungen zu testen. In den vorangegangen Phasen haben wir ein Problem identifiziert und dann mitsamt seinem Kontext und den Personen verstanden. Jetzt können wir auf Leute zugehen und ihnen unsere Lösungen präsentieren um herauszufinden, welche Lösungsansätze am besten funktionieren und wie wir sie drehen, wenden und anpassen müssen.
Das ist die Art von User Research, die uns am meisten begegnet. Hier handelt es sich im Wesentlichen um frühe UX Tests. Speziell hier sollte man sich bewusst sein, in welcher Art von Forschung man sich bewegt und welche Art von Erkenntnissen man gewinnen kann. Ein Fehler wäre es, die Erkenntnisse aus dieser Forschung auf frühere Phasen zu beziehen und zu denken man bekommt in diesen konkreten Befragungen sehr Grundsätzliches heraus. Das könnte nebenbei aus Zufall einmal passieren, ist aber auf keinen Fall der Zweck dieser Tests und man sollte bei der Extrapolation sehr vorsichtig sein ob die Ergebnisse valide sind.
Wir treffen immer wieder auf Situationen, in denen Firmen diese Tests sehr liebevoll durchführen und daraus Antworten auf Fragen auf allen Ebenen ableiten und davon ausgehen, dass dieser Input dazu führt, dass man das richtige Produkt entwickelt. Dem ist nicht so. Im Gegenteil. So zu denken ist geradezu gefährlich. Kunden, denen wir eine ‚fertige’ Lösung vorsetzen, können uns keine Auskünfte über das gelöste Problem geben, sondern nur über die Lösungsqualität. Unsere konkreten, letztlich aufgabenbasierten Fragen werden auch konkret beantwortet und die Aufgaben so gut wie möglich bearbeitet. Und das meist sehr freundlich. Die Kunden werden uns hier nicht erzählen, dass sie keine Ahnung davon haben was unsere Lösung überhaupt anbietet und warum es unsere Forma überhaupt gibt. Auch nicht, dass sie keine Übereinstimmung zwischen unserem Versprechen, unserer Vision, unserem Produktangebot und unserer Markenbotschaft erkennen können. Man sollte erst gar nicht versuchen, diese Ergebnisse in diese Art von Forschung hereinzuinterpretieren. Dennoch ist dies die große Mehrheit von Forschung, die wir beobachten.
Die gute Nachricht zu dieser Art Kundenforschung: Man kann und sollte sie oft ausüben und man kann sie tief und gut in den Entwicklungsflow integrieren. (Unsere Annahme ist, dass man sie deswegen so oft antrifft – außerdem ist es hip researchy zu sein.) Es ist aber wichtig zu verstehen, dass diese Forschung auf einem Detaillevel abläuft, der uns nicht garantiert, das richtige Produkt zu bauen. Hier erhalten wir nur Auskunft, wie unser Produkt funktionieren kann.
Hier ist es das Ziel, herauszufinden, welche unserer Lösungsansätze funktionieren können und so der Problemlösung im Konkreten immer näher zu kommen. Mit anderen Worten: Hier stellt es sich heraus ob wir genug erklärende Forschung betrieben haben um die richtigen Lösungen zu finden.
4 Beiläufige Forschung
Sobald das Produkt ausgeliefert ist, befinden wir uns in der bequemen Lage, Leute dabei beobachten zu können wie sie es benutzen und mit ihm umgehen. Welche Probleme treten dabei auf? Was fällt leicht und ist verständlich? Warum verlassen sie den Verkaufsflow ständig an derselben Stelle? Warum ausgerechnet dort, wo wir alles für so klar halten? Warum wird das verdammte Formular nie ausgefüllt? Warum werden immer dieselben Produkte aufgerufen, andere aber gar nicht?
Das ist beiläufige Forschung und wie der Name sagt, sollten wir sie immer auf der Rechnung haben und ständig betreiben. Das ist unsere Chance, das gefundene Rezept immer weiter zu verfeinern, immer besser zu skalieren und so das Produkt immer einfacher zu gestalten. In seiner Extremform, könnte man sagen, ist A/B-Testing einfach eine weitere, höher skalierte, rein quantitative Form dieser Forschung direkt im Produkt.
Hier noch unser Schaubild, auf dem die Forschungsarten entlang des Knowledge Funnel aufgeführt sind.
Bevor man in die jeweilige Forschung einsteigt, sollte man sich also klar machen:
- Was ist die benötigte Ebene an Erkenntnissen?
- Welche Art von Forschung liefert dies?
- Welche Art von Fragen müssen wir stellen?
- Und jetzt nicht die Ebenen verwechseln!
Es ist auch wichtig zu bedenken, dass es zwar einfach ist bewertende und beiläufige Forschung in den Entwicklungsflow zu integrieren. Es kann aber ebenso kulturell herausfordernd, schwer oder gar konzeptionell unmöglich sein, tiefe erklärende oder generative Forschung in den Entwicklungsflow zu integrieren. Ich persönlich würde sogar davor warnen und in diesen Fällen Forscher Forscher und Entwickler Entwickler sein lassen, die beiden Gruppen aber ermutigen sich über ihre Erkenntnisse auszutauschen.
Viel Spaß dabei!
Titelphoto: Mike & Amanda Knowles, licensed under the Creative Commons Attribution 2.0 Generic license.