Research und Design gegen Risiko

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Abandoned shop

In meiner Nachbarschaft öffnen und schließen ständig Läden. Es ist eine ziemlich durchmischte Nachbarschaft, die zwischen niedrigem und hohem Einkommen hin- und her oszilliert. Das Problem ist: Die Reichen, die hier wohnen, kaufen hier nicht. Also kann man hier keine schicken Sachen anbieten und verkaufen. Was hier gekauft wird, sind eher grundlegende Dinge und die nicht mal in vielen  Variationen.

Wann immer hier ein neuer Laden aufmacht, weiß ausgerechnet ich ziemlich genau, ob der Laden es schaffen wird oder nicht. Manchmal werde ich richtiggehend traurig noch während der Laden renoviert wird und sich abzeichnet, was es für ein Laden werden wird. Je toller die Idee, umso trauriger werde ich, weil tolle Ideen hier ja nicht klappen. Und je toller die Ideen, je netter sind die Ladenbesitzer und umso toller sind die Dinge, die sie anbieten wollen. Und dann wollen sie der Gegend trotzen und sie erziehen und hoffen, dass das schon noch wird und wir irgendwann alle verstehen, das man eben doch hier einkaufen gehen kann. Aber wie es aussieht, will diese Gegend nicht erzogen werden. Und dann tun mir die Neuladenbesitzer so leid, dass ich ihnen gerne noch während der Renovierung einen Brief durch die Tür schieben möchte – gerne auch mal mit Geld drin – und in dem Brief würde stehen: „Ihr seid super nett. Ich mag Euch und eure Ladenidee. Hier kamen schon viele nette Leute mit vielen tollen Ladenideen, die ich auch toll fand. Aber glaubt mir: Keiner wird bei euch kaufen. Und auch wenn ich mich erbarme und bei euch kaufe, ich werde der einzige sein und von mir alleine könnt ihr nicht leben. Nehmt das Geld das ihr noch habt, sucht euch eine andere Gegend! Die Idee ist toll, sie kann klappen – nur nicht hier. Glaubt mir, ich mag euch wirklich!“ Natürlich habe ich das dann aber nie gemacht.

Abandoned Shop

Aber dann werde ich auch böse auf die Leute: Warum haben die mich nicht gefragt? Warum haben die niemanden gefragt? Man muss dafür nicht schlau sein. Hier weiß das jeder: Man macht hier keinen Kostümverleih mit angeschlossenem Café auf. Du machst auch kein neues Café auf. Das einzige Café, das geht, ist vorne an der Ecke, da sitzen alle. In allen anderen Cafés ist Tabula Rasa, Schweigen. Oder sie sind eben schon wieder zu. Friseure gibt’s schon zu viele und alle verdienen zu wenig. Und so geht die Liste immer weiter.

Pleite gegangener Laden

Das einzig wirklich schlaue, was man machen kann, wenn man hier einen Laden aufmacht und was ich wirklich von dir verlange ist:  Frag doch die Leute die hier wohnen, wie mich. Oder frag eben irgend einen anderen. Alle wissen es. Am Anfang werden sie freundlich sein. Aber nach fünf Minuten werden sie brutal ehrlich sein und sagen: behalt dein Geld und versuch es wo anders. Das hier ist ein toller Ort, aber nicht für Dein Geschäft. Einen besseren und billigeren Rat kannst und wirst Du nicht bekommen. Je früher, je besser.

Aber, Gott bewahre, ich befürchte einige dieser Ladenbesitzer haben sogar vorher Geld ausgegeben, viel Geld womöglich, für Marktforschung. Also haben Leute ohne Ahnung, andere Leute ohne Ahnung nach ihrer Meinung gefragt. Diese Leute haben dann ihre Daten befragt und die Daten sehen gut aus. Denn in unserer Stadt allgemein würde es ja klappen. Was die Daten ihnen nicht sagen können ist, dass es genau hier, bei uns nicht klappen kann. Denn die Daten sind irgendwie aggregiert, aber nicht genau so, dass sie hier eine Aussage treffen könnten. Und dann sind es eben alles quantitative Daten und eben keine qualitativen Aussagen. Da steht alles mögliche über Alter, Einkommen, Bildung, usw. Was da nicht steht ist: „Die kaufen nicht um die Ecke ein.“ Wie gesagt: Würden sie irgendjemanden hier fragen …

Schon lange leer

Und jetzt rate mal, was wir bei überproduct machen. Genau! Wir stellen den Leuten einfach diese Fragen. Und anstatt Leuten einen Umschlag durch die Tür zu schieben, versuchen wir lieber mit ihnen rauszufinden, welches Geschäft funktioniert. Und wo! Und das so früh wie möglich. Oder während sich ein Geschäft ändern und anpassen muss. Und meistens für das Internet – der einzige Unterschied ist, dass die Leute im Internet nicht rumlaufen.

Warum es Sinn macht, früh Leute zu fragen, die etwas wissen, einfach weil es um sie geht, sollte jetzt schon klar sein. Aber es gibt noch einen Aspekt, warum das alles Sinn macht: Normalerweise gibt man ca. 10% für ein Produkt während seiner Konzeptions- oder Designphase aus. Innerhalb dieser Zeit werden aber 90% der späteren Kosten bereits verplant (ziemlich unabhängig davon ob man agil ist).

Schräger Laden

Was manchen esoterisch erscheinen mag, ist der rationalste und pragmatischste Weg, in den frühesten Phasen Risiko zu managen. Es gibt Stapel von Büchern und unzählige Methoden und noch mehr Debatten darüber, wie man  Risiko in Produktion und Software-Entwicklung managen sollte. Aber nur wenige beschäftigen sich damit, wie man das in den früheren Phasen eines Produktes schon machen kann. Und noch weniger Leute beschäftigen sich mit den Methoden, die helfen, dabei Produkte zu entdecken. Die Marketingleute haben tolle Methoden gefunden, die in ihrem Kontext funktionieren: Fokusgruppen, quantitative Marktforschung, usw. Es ist ein riesiger Markt und Firmen haben es gelernt, diese Methoden zu schätzen und bezahlen sie gut.  Das Problem dieser Methoden ist, dass sie nur dafür gemacht sind, Bestehendes verifizieren, aber nicht dafür, Neues zu entdecken. Und in diesem Kontext hilft es nur, mit Leuten zu reden und die richtigen Fragen zu stellen, auf der richtigen Abstraktion und Muster zu erkennen.

Aufgegebener Supermarkt

Die beiden größten Probleme, die uns unterwegs begegnen sind:

Firmen sind froh über jeden Cent, den sie sparen können und riskieren lieber das falsche Produkt zu bauen, als ein bisschen mehr in frühen Research zu stecken. Das Risiko, das entsteht, weil man ein paar Fragen zu wenig gestellt hat, wird erst spät sichtbar. Wenn etwas passiert, ist man sowieso schon weg oder es ist eben die Schuld derer, die ein schlechtes Produkt schlecht gebaut haben. Zudem führten erst wenige Karrieren steil nach oben weil man unsinnige Projekte oder Produkte gestoppt hat.

Das zweite Problem, das wir oft sehen ist, dass Firmen gar kein Geld für Research ausgeben und in Meetingräumen munter vor sich hin raten, was denn klappen könnte und das dann auch direkt bauen. Im schlimmsten Falle ist jetzt auch noch Lean Startup die methodische Ausrede zum Iterieren und hie und da ein unmotivierter Pivot sieht auch immer mal ganz mutig aus. Der Name Strategiemeeting oder New Business kann dieses Defizit auch nicht wirklich aufwiegen.

White shop

Es ist wirklich wichtig, sich daran zu erinnern, dass es in frühen Phasen notwendig, allerdings auch möglich ist, sich auf möglichst unterschiedlichen Wegen, so billig wie möglich, Information zu kaufen. Das ist tatsächlich billiger als klassische Marktforschung und vor allem wesentlich aussagekräftiger. Möglicherweise ist es gerade die geringe Aussagekraft quantitativer Daten in diesen Phasen,  die sie so reizvoll machen. Kaum eine Idee wird durch diese Daten wiederlegt. Nicht einmal die der schlechtesten Strategieberater. Confirmation Bias allerorten.

Eigentlich ist es einfach: Es geht darum, früh den Kontext zu verstehen und die Information billig mitzunehmen, die sowieso herum schwirrt ist und billig zu haben ist. Hauptsache, sie kommt von draußen. Dann wird man nicht so enden wie die ganzen Geschäfte in meiner Nähe.



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