UX Utopien
UXler einzustellen und eine UX-Abteilung aufzubauen ist hip – am besten gleich mit einem eigenen Labor. Und wirklich: Es gibt einige Produkte, die durch Designtechniken und UX zu dem wurden, was sie sind. Als Nebeneffekt sehen sie dann auch cool designed aus und sind stark durch eine gute UX definiert. Beispiele: Square, die sich auch noch über die Gestaltung der Quittung Gedanken machen (und zwar aus gutem Grund) oder dropbox oder etwa Kayak.
Was liegt also näher, als auch UX zu machen? Und jetzt hinein ins echte Leben: Man holt talentierte UXler, die nun denken, hier soll wirklich UX gemacht werden. Diese machen sich also munter ans Werk, führen ihre Interviews und nähern sich dem User an. Oft machen sie nicht bei der Produkt-UX halt, sondern machen sich über die gesamte UX her – wir erinnern uns: Das heißt User Experience. Und diese ist nicht auf das User-Interface beschränkt. Herrjeh – wir haben ja auch gute UXler geholt!
Nach ein paar Monaten gibt es tiefe Einsichten in die Kundenerwartungen und Bedürfnisse, ein paar neue Konzepte, Vorschläge und Lösungen. Dafür hat man die Leute ja geholt.
Spätestens hier ist klar, dass man zwar in den Himmel will, den Preis des Sterbens dafür aber nicht zahlen will.
Jenseits der UXler ist die Firma aber noch im alten Fahrwasser, ohne Fokus. Das Wissen über den Kunden kommt über rein quantitative Marktforschung ohne qualitative Erkenntnisse und eigentlich hat man ja eigentlich nur ein paar nette Designs erwartet. Alles sollte doch schöner werden – nicht schwieriger. Das alles zu verstehen, was hier an neuer Erkenntnis aus ungewohntem Winkel auf einen einströmt, ist eine echte Herausforderung! Zumal die Nachrichten aus dieser neuen UX-Ecke da drüben nicht gerade angenehm sind. Man hat doch einiges falsch gedacht. Dazu gehören auch viele Vorschläge, die für Außenstehende super einfach zu sehen sind und irgendwie auch in den Köpfen in der Firma bekannt sind. Aber sie wurden nie umgesetzt. Denn obwohl die zu erzeugenden Werte vollkommen klar ersichtlich sind, scheitern sie seit ewiger Zeit an internen Interessenskonflikten und verstauben in irgendeinem Wiki. Und jetzt auch noch die alte Roadmap für diese Sachen opfern und über Abteilungsgrenzen hinweg umzusetzen? Wie soll das denn gehen? Das ist richtig schwer.
Wie es von hier weiter geht, ist so klar wie ernüchternd: In der UX-Ecke stapeln sich bald die Konzepte – denn umgesetzt werden sie ja nicht. Nach dem 10ten nicht beachteten und bald Schubladen füllenden Konzept kommt auch irgendwann der Elan des motiviertesten UXlers zum erliegen, hier ewig weiter zu kämpfen. Sich direkt in den Produktionsablauf einzuklinken ist auch schwer – das hat man ja wiederum auch nicht gelernt. Und so kommt eins zum anderen: Aus den neuen UXlern werden irgendwann mittelmäßige Designer und dann schlechte Frontendler, die irgendwann Design-Templates erarbeiten und twitter-Bootstrap aufpimpen und darauf aufbauend einen Styleguide basteln. Was UX sein sollte, ist jetzt eine schlechte Frontendabeilung ohne Durchgriff und damit eine Enttäuschung für alle. Ein bitteres Missverständnis, das niemand heil übersteht.
Spätestens hier will nun niemand mehr in den Himmel kommen, selbst wenn der Preis nicht mehr das sterben wäre.
Was hier passiert ist Folgendes: Man kopiert einen Mechanismus ohne seine Wirkungsweise zu verstehen. Man wollte ein Rezept anwenden, bekam aber eine komplexe Lösung mit tiefen Erkenntnissen, die der “Apparat” nicht verdauen kann. Was kopiert werden sollte, war eigentlich die Oberfläche, “cooles Aussehen“. Eigentlich sollte alles nur ein bisschen hübscher werden – andererseits aber dieses lästige NPS und Conversionproblem lösen.
Some people avoid thinking because they fear the conclusions to which it may lead.
— Philosophy Muse (@philosophy_muse) January 18, 2014
Mit anderen Worten: Wer UX haben will, weil er auf die Ergebnisse steht, der muss auch die Offenheit haben, den ganzen UX-Weg mitzugehen. Sonst macht er alles schlechter als es vorher war. Die andere Seite ist, dass UX sich Mühe geben muss, die Erkenntnisse besser zu vermitteln – knackige Prototypen, Ausschnitte aus den Videos vorführen, Storytelling statt Powerpoint-Analysen, Spaß statt Defensive – und sich durch LeanUX-Techniken direkter in den Produktionsablauf einzuklinken und den ganzen Deliverables-Overhead und –Unsinn hinter sich lassen muss, den Agenturen immer brauchten um ihre Methode zu verkaufen. Keine Scheu vor Planungs- und Replenishment-Meetings in agilen Umgebungen. Die Software-Teams sind Dein Freund und Hebel, um Deine Erkenntnisse in Wirklichkeit umzusetzen. Und gleichzeitig kommst Du so in die Rolle, wirklich die User Experience ganzheitlich zu definieren und zu schützen. Und: Das wolltest Du doch! (Siehe auch den Gast-Blog von Max Wambach.)
Also: Wenn man erst mal mit UX anfängt, wird es bald Erkenntnisse geben, die weh tun. Da muss man durch. Man sollte den ganzen Weg gehen oder gar nicht erst anfangen.
Der Trost: UX ist nicht die einzige Disziplin, die von diesem Problem betroffen ist. Die Suche nach schnellen Rezepten ist allgegenwärtig: Schnell mal einen Scrum-Kurs machen und das, was man gehört hat, einfach mal umsetzen: “Hey, Product Owner: Deine Story ist nicht Sprint-Ready!“, “Hey, Scrum-Master, das können wir nicht committen. Wir sollten noch drei Schätzmeetings einbauen”. Oder im Kanban: “Nö, wir machen jetzt nur noch One Piece Flow, da gehen nicht zwei Stories parallel.” Auch hier führt blindes “Nachmachen” ohne Verständnis und Anleitung direkt ins Gegenteil von dem was man wollte. Der Wunsch nach Agilität endet in Regeln statt in besserer Zusammenarbeit.
Bevor ihr mit UX startet fragt euch ob ihr bereit seid, den Preis zu zahlen. Aber: seid ihr bereit den Preis zu zahlen, kein UX zu machen? Wie immer: Es fällt einem nicht zu, man muss es sich geduldig erarbeiten, offen für den Wandel sein und wissen was man tut, so wie Max es hier beschreibt.
Titelbild von Wikipedia und lizenzrechtlich in der Public Domain.
[…] überhaupt gar nichts anfangen kann – mit negativen Konsequenzen für beide Seiten (siehe auch „UX Utopien“ […]
[…] Eine schlechte Nachricht am Ende. UX-Tests bringen keine Conversion-Optimierung und neue Kunden, wenn das eigentliche Problem nicht bereits gelöst ist. UX testing ist Optimierung einer bestehenden Lösung. Wir beobachten viele Firmen dabei, wie sie mit UX testing als Silver Bullet zum Erfolg reinholen wenn das eigentliche Problem noch nicht gelöst ist. Das ist das falsche Mittel zur falschen Zeit: Ein weiteres Missverständnis, dass potentiell zu UX Utopia führt. […]
[…] Eine UX-Abteilung aufbauen und dann ist alles gut? Weit gefehlt! Wer ernsthaft UX betreiben will, muss auch die damit aufgedeckten Probleme, unangenehmen Wahrheiten und Herausforderungen aktiv angehen wollen. […]