Das Pareto-Prinzip der Produktentwicklung – Just understand it!
Der Chef kommt von einer Messe zurück. Oder von einem Innovation Camp? Oder hat einfach ein Startup getroffen? Oder vielleicht hat er einfach gehört, was ein Konkurrent macht, oder ein Bekannter? Vielleicht hat er sogar andere Märkte genau beobachtet. Und jetzt kommt er zu Dir und sagt: „Hier ist die Idee: Das und das macht man gerade … wir machen das auch. Wir brauchen das auch. Bald!“ Also: machen wir!?
Das gibt es auch in der Form und auf der Ebene von „Das muss blau sein, der Button muss rechts oben sein.“ Die Ebene, auf der es passiert, ist egal. Denn was passiert, ist das Falsche. Es ist Aktionismus. Es ist Dinge machen, um Dinge zu machen. Es ist sinnlos. Und so sieht es in den Firmen aus: Alle machen Dinge, kaum einer weiß, warum und schon gar nicht, warum diese Dinge und nicht andere. Der Zufall regiert und zwar der Zufall, wen der Chef so trifft.
Aber: Machen klingt toll, und es dominiert die Firmenkulturen. Ist nicht „Ein Macher sein“ voller Lob? Macher sind tolle Kerle. Vielleicht sogar Helden?
Wir dagegen glauben, einfach machen ist erst einmal unreflektiert. Und die Firmen sind voll von dieser Mentalität. Die extrovertierten Alphamännchen übernehmen das Sagen und dominieren die Kultur mit der Macherei. Die introvertierten Delta- bis Omegamännchen und -weibchen schauen zu und denken sich ihren Teil. Was sollen sie auch anderes tun!?
Und all die Macherei führt genau dazu: Mehr Macherei. Jeder ist beschäftigt und macht irgendetwas. Mit der Betonung auf irgendetwas. Denn was den Machern zum echten Erfolg fehlt ist: Tiefe und Zweck. Und alles hat seinen Ursprung darin, dass es den Machern um sich selbst geht und um ihre Energie, von der sie getrieben sind (und die wir eigentlich schätzen und gut gebrauchen können!), aber nicht um die Firma. Das kann man daran erkennen, dass sie sich im Bezug auf einen Firmenzweck oder eine Vision jenseits von ‚Wir verdienen Geld‘ recht schwer tun und wenn, dann nur mit viel Mühe zu einer Vision und Strategie zu bewegen sind. Und sie werden die ersten sein, die sie verwerfen sobald sich die Gelegenheit ergibt etwas zu machen: Das nächste Feature, die nächste Initiative, die nächste Akquisition.
Und wieder rennen alle rum und machen irgendetwas – denn der Macher hat genug Ideen, um uns alle machen zu lassen. Nur das Ziel ist keinem mehr klar. Wofür sind wir noch mal da?
Aber was passiert denn da?
Betrachten wir Produktarbeit oder Innovation oder Produktdesign und nehmen ein Framework, welches die unterschiedlichen Aspekte beschreibt, dann kommt dabei etwas wie folgendes heraus. Wir durchlaufen hochgradig nicht-linear und iterativ Phasen wie:
- Sense Intent
- Know Context
- Know People
- Frame Insights
- Explore Concepts
- Frame Solutions
- Realize Offerings
Das Modell ist natürlich geklaut und stammt von Vijay Kumar und wird in seinem tollen Buch „101 Design Methods“ beschrieben. Es spielt hier aber nur eine untergeordnete Rolle um etwas zu verdeutlichen. Vijay Kumar tut uns noch einen großen Gefallen und ordnet die Phasen wie folgt konzeptionell:
Wenn man sich nun fragt, mit welchen der ‚Modes‘ man am seltensten beschäftigt ist, dann gibt es typischerweise folgende Antworten:
Leute beschäftigen sich also selten damit, den Kontext Ihrer Kunden kennenzulernen. Oder – genau so schlimm – den Kontext der angestrebten Lösung im Markt, im gesellschaftlichen Kontext usw, zu studieren. Oder, auch schlimm, das Problem in einen neuen Zusammenhang zu stellen, neu zu ‚framen‘. Tatsächlich ist dies der Kern von Service Design, Experience Design oder gar Innovation in sich: ein Problem von möglichst vielen unterschiedlichen Warten zu betrachten und aus diesen, neu gedachten Perspektiven, zu lösen.
Im obigen Bild kann man jetzt leicht erkennen, dass wir uns die wenigste Zeit für die Modes geben, die im Bereich von ‚Understand‘ liegen. Die meiste Zeit sind wir damit beschäftigt, uns im ‚Make‘-Bereich zu bewegen. Denn: Make wird verstanden. Make ist sichtbar. Im Bereich von Make riecht man die Aktion. Der Kulturbruch kommt im Konzeptionellen: Die Insights aus dieser Phase sind schlechter sichtbar, müssen verkauft werden, müssen – bei größerem Unverständnis – besser kommuniziert werden. Sieger sind Macher. Loser sind ‚Denker‘. Der Witz ist natürlich, dass auch wir unser ‚Understand‘ in konkreten ‚gemachten‘ Ergebnissen wie Prototypen fassbar und erfahrbar machen. So werden bei uns auch ‚Denker‘ zu Siegern und ‚Macher‘ zu Losern. Der Macher wird jetzt zum Loser, weil er nur Lösung denkt, aber den Problemraum nicht verstanden haben kann. Er denkt natürlich, dass er das intuitiv hinbekommt … aber das ist One in a Million, ein Zufall, wenn es mal klappt.
Kurz gesagt ist also das Pareto-Prinzip von Produktentwicklung: Es einfach machen. Aber was wir machen müssen, ist eben all das was links von der ‚Machengrenze liegt’, weil die dominierenden Macher schon von sich aus dafür sorgen, dass wir in den Modes auf der rechten Machtenseite arbeiten. Dem müssen wir Tiefe und Validität und Seriosität der linken Seite entgegensetzen. Den Mut finden, sich in der Firmenkultur gegen das simple Machen, das Exekutieren von vorgeschlagenen Lösungen zu stemmen und das Understand dagegen zu setzen. Und mit den Erfolgen immer mehr dafür zu werben, dass das notwendig ist und vor allem, dass es machbar ist. Es ist machbar, weil es einfach ist:
- Man muss einfach mal einen halben Tag mit Kollegen darüber nachdenken, welches Problem man überhaupt mit welcher Absicht lösen will (Sense Intent).
- Alle müssen sich einfach mal ein bisschen Zeit nehmen um Recherche zum Problemkontext im Internet zu machen, vor Ort (einfach so) und am Ende das alles mal zusammenzufahren und ein Modell davon zu machen. (Know Context)
- Man muss einfach mal rausgehen und Kunden oder auch Nichtkunden interviewen und ihren Alltag wieder kennenlernen. Das geht auch bei Starbucks oder im (letzten) Tante Emma Laden um die Ecke. Das geht wirklich! Und das nicht erst beim Testen, da ist es schon zu spät! (Know People)
- Und bevor man anfängt zu machen, muss man alles was man gelernt hat einfach mal von außen unter verschiedenen Blickwinkeln betrachten und schauen ob alles wir uns ausgedacht haben oder was der Macher vorgeschlagen hat immer noch so schlau aussieht. Das ist vielleicht das Schwerste, zugegeben. (Frame Insights)
Und für all das braucht man im Zweifelsfall nicht mal uns (obwohl das gerne für euch oder – noch viel besser – mit Euch machen!) oder andere tolle Agenturen. Gerade das kann man jetzt wirklich einfach mal machen. Kunden gibt es fast überall auf der Straße oder über den hauseigenen Service oder oder oder. Ansonsten braucht man Willen, Disziplin und ein bisschen gestohlene Arbeitszeit. Das geht schon.
Und am Ende geht alles ganz machermäßig schnell: Paula Scher hat das Logo für die Citi Group in „einer Sekunde die 34 Jahre gedauert hat“ gesketched („It’s a second done in 34 years“). Jeder kann die Geschichte dazu selber googeln.
Der Witz ist jetzt aber: Sobald die Balance zwischen Machen und Verstehen wieder da ist, verändert sich im Unternehmen der Gesamtblick auf alles und ‚einfach machen‘ sieht plötzlich dumm aus. Dafür wächst jetzt das richtige Verständnis dafür, dass Verstehen die Grundlage ist, die Umsetzungsenergie aber vom Machen kommt! Wie so oft ist es also wichtig, dass man die beiden Kräfte explizit macht und jeweils am rechten Ort auf die richtige Weise nutzt und so echter Respekt für die beiden Seiten entsteht.
Da aber in den allermeisten Firmen erst einmal ein krasses Ungleichgewicht zu Gunsten von Machen besteht, heißt es erst einmal ganz viel Verstehen entstehen zu lassen. Und damit ist fast überall das Pareto Prinzip von guter Produktarbeit: Einfach mal mehr Platz fürs Verstehen machen.
Danke für das Titelbild an Noé Lecocq verwendet unter CC Lizenz
[…] Das Pareto-Prinzip der Produktentwicklung beleuchtet, wie man blinden Aktionismus mit dem notwendigen kundenzentrierten Tiefgang kombiniert, um aus der Macherfalle herauszukommen. […]